Pema Wangyal ist aus dem Tibet-Institut in Rikon ausgezogen und hat ein Meditationszentrum eröffnet. Er lebt am Existenzminimum, fürchtet sich aber nicht, zu scheitern.

Foto: Madeleine Schoder
Pema Wangyal schläft hinter einem grauen Vorhang in einer Ecke seines Meditationszentrums – auf etwa sechs Quadratmetern. Sein Bett: 90 mal 200 Zentimeter. Sein Kleiderschrank: ein roter Hartschalenkoffer. Sein Büro: ein Drucker und ein Nachttischchen mit einem Computerbildschirm, daneben ein paar Gebetsketten, ein Handyladekabel und die Post der letzten Tage.
Der 47-Jährige ist tibetisch-buddhistischer Mönch. 2006 ist er im Auftrag der tibetischen Exilregierung in die Schweiz gekommen und hat fast 17 Jahre lang im Tibet-Institut in Rikon gelebt; letzten Frühling ist er ausgezogen. Seither schlägt er sich in seinem Zentrum beim Bahnhof Kollbrunn mit Meditations- und Yogaunterricht durch und ringt mit dem weltlichen Leben.
Kloster soll ihn eingeschränkt haben
Wangyal sitzt im orange-roten Mönchsgewand auf einem Sitzkissen vor einem kniehohen Tischchen und einem Glas Chai, Schwarztee mit Milch. Sein gewelltes, dunkles Haar hat er zurückgekämmt; anders als die kahlgeschorenen Mönche in buddhistischen Klöstern trägt er Schnauzer und Bart.
Er habe das Tibet-Institut verlassen, weil er unzufrieden mit dem Klosterbetrieb gewesen sei, sagt er. «Ich konnte nie etwas für die Anhänger meiner Schule tun.»

«Seine» Schule, das ist die Drukpa-Linie innerhalb der tibetischen Kagyü-Tradition. Der Dalai Lama sei für ihn zwar ein guter Meister und Politiker, erklärt Wangyal. Aber über dem Altar mit Messingschalen, Äpfeln, Nüssen und Blévita-Guetsli hängt neben Buddha das Foto eines anderen. Dort lacht sein «spiritueller Meister», der «Gyalwang Drukpa».
Das Rikoner Tibet-Institut beherbergt Mönche aller vier grossen Traditionen des tibetischen Buddhismus. Gegründet wurde es aber 1967 auf Initiative des Dalai Lama, des damaligen politischen Oberhaupts des tibetischen Volkes. Und dieser gehört wie alle Äbte der letzten 60 Jahre zur Gelug-Tradition.
So entstand das Tibet-Institut in Rikon
An die 2500 Tibeterinnen und Tibeter leben heute in der Schweiz, etwa 80 Prozent sind mittlerweile eingebürgert. Ihre Vorfahren kamen 1961 in die Schweiz, nachdem chinesische Truppen Tibet besetzt hatten. Ein Grossteil davon siedelte sich damals in Rikon an und arbeitete in der Pfannenfabrik Kuhn-Rikon.
Bald wurde das Bedürfnis nach einer kulturellen und spirituellen Heimat laut. Deshalb gründeten die Brüder Kuhn im Austausch mit dem Dalai Lama die «Stiftung Tibet-Institut Rikon» und statteten diese mit 100’000 Franken für den Bau eines Klosters aus.
Durch Spenderinnen und die Schweizerische Tibethilfe kamen schliesslich die Baukosten von 730’000 Franken zusammen; 1968 wurde das «Klösterliche Tibet-Institut» Rikon eröffnet. Der Name war ein Kompromiss – damals verbot die Bundesverfassung die Gründung von Klöstern, damit sich die Jesuitenorden nicht ausbreiteten.
Heute ist das Kloster nicht nur spirituelles Zentrum für die Tibeter, sondern auch Anziehungspunkt für viele Schweizer, die sich für den tibetischen Buddhismus interessieren. (rme)
Das hatte laut Pema Wangyal Konsequenzen: «Mir war es mehrere Jahre nur erlaubt, Rituale dieser Schule durchzuführen, etwa anlässlich des tibetischen Neujahrs.» Als er sich immer wieder beschwert und sich trotzdem nichts geändert habe, sei er gegangen – friedlich, wie er betont.
Gutes Karma, schlechtes Geld
Seither betreut Wangyal 20 bis 30 tibetische Familien von seinem Zentrum in Kollbrunn aus. Er segnet Neugeborene und vertreibt mit Gebeten, Räucherstäbchen und Glocken böse Geister aus Büroräumen oder Wohnungen.
Diese Dienste seien zwar gut fürs Karma, sagt der 47-Jährige, weniger aber fürs Portemonnaie: Fünf Anfragen für Segnungen oder Reinigungsrituale habe er etwa pro Monat. Verlangen darf Wangyal laut buddhistischer Lehre nichts: «Jeder gibt das, was er will.» Mal seien es 10, mal 20, hie und da sogar 50 Franken, manchmal auch gar nichts.
Wangyal betrachtet diese Arbeit ohnehin nicht als Brotjob; eher als Lebensaufgabe, der er nach seinem Auszug endlich mit vollem Einsatz nachgehen kann. Sein wirtschaftliches Standbein sind die Meditations- und Yogakurse – so jedenfalls war es ursprünglich geplant.
Das Problem: Er hat kaum Kundschaft. Zwei bis drei Gäste würden ihn wöchentlich sporadisch besuchen, sagt er. Dafür erhält er jeweils einen «Unkostenbeitrag» von 20 bis 30 Franken pro Person.
Umgang mit Geld fällt ihm schwer
Wie viel Ende Monat zusammenkommt, ist schwierig zu sagen. Während Wangyal gerne über den Sinn des Lebens philosophiert, gibt er sich beim Thema Finanzen eher wortkarg. Geld scheint für ihn nicht mehr als ein notwendiges Übel, das er jetzt braucht, um zu überleben; der Umgang damit scheint ihm schwerzufallen.
In seiner 17-jährigen Klosterzeit kam der Mönch vor allem dann mit Geld in Kontakt, wenn er mit dem Kloster-Auto in den Migros Turbenthal fuhr und für die Mönchsgemeinschaft Lebensmittel kaufte. Das war sein Ämtli – er sei der Einzige im Institut gewesen, der Auto fahren konnte, sagt er. Bezahlt hat die Klosterkasse, und finanziert hat es die Stiftung hinter dem Institut beziehungsweise deren Spenderinnen und Spender.
Danach gefragt, was sich in seinem Leben seit seinem Auszug verändert habe, sagt Wangyal nach längerem Überlegen: «Einkaufen! Ich muss jetzt immer rechnen, wie viel etwas kostet, und schauen, dass das Geld bis Ende Monat reicht.»
Er lebt nach wie vor bescheiden
Im Moment reicht es nicht. Lebensmittel, Krankenkassenprämie, Miete und alles andere, was bis vor kurzem noch das Kloster übernommen hat, würden seine Einnahmen auch ein halbes Jahr nach seinem Auszug noch übersteigen, sagt Wangyal.
Dabei lebt er nach wie vor bescheiden: Gummibärli, einen Kinobesuch oder gar ein Parfüm gibt es für ihn auch in seinem neuen Leben nicht. Aber WC-Putzmittel habe er jetzt, sagt er. Im Kloster habe eine Putzfrau für Ordnung gesorgt.

Heute schläft Wangyal zwar nicht mehr auf einer Holzpritsche; aber seine Kollegin Tina Steinauer, die im Zentrum bei grösserem Andrang auch Yoga unterrichten würde, musste ihn zum Kauf des kleinen Bettes fast zwingen, wie sie sagt. Und er rechtfertigt den Kauf mit den Worten: «Das Bett war ein bisschen günstig. Obwohl es gross war.»
Trotz Bescheidenheit kann Wangyal nach eigenen Ausgaben nur existieren, weil er sich während seiner Klosterzeit einen Notgroschen auf die Seite gelegt hat – Spenden, die ihm seine Gefolgschaft als Dank für seine Dienste gab. Ausserdem reduziere ihm seine Vermieterin ein Jahr lang die Miete.
Scheitern als Lektion fürs Leben
Warum verlangt er nicht mehr für seine Dienste? Der 47-Jährige hat schon als Kind verschiedenste Klosterschulen in Indien und Bhutan besucht und zuletzt über 15 Jahre lang als Meditationslehrer im Tibet-Institut gewirkt. «Ich will nicht gierig sein und die Leute ausrauben», sagt Wangyal. Und: Man solle laut Buddha mit dem zufrieden sein, was man bekomme.
Was aber, wenn er nicht bald besser wirtschaftet? Wangyal überlegt kurz, rollt mit den braunen Augen und sagt schliesslich: «Dann bin ich nächstes Jahr tot.» Er lacht und findet dann, in der Schweiz müsse niemand hungern. Sollte er mit seinem Zentrum scheitern, unterrichte er eben woanders. Scheitern nämlich könne man in der Schweiz durchaus. «Das aber ist dann eine gute Lektion für mein Leben.»
Publiziert in: Landbote, 27.10.2023